„Es kennzeichnet die Deutschen, daß bei ihnen die Frage‚ ‚was ist deutsch‘ niemals ausstirbt“, hat Nietzsche gesagt. Vielleicht, weil es ein Scheißthema ist?
von Marc Hieronimus, 20.03.2016, 11:33 Uhr (Zwote Dekade, 1/2)
Der Lokalpatriot ist ein kleiner Scheißer
„Der Deutsche“? Sei nicht albern, mag die Leserin jetzt denken. Und in der Tat: Als Lehrer für fortgeschrittene Deutschlerner kenne ich Menschen aus mehr als vierzig Nationen und teile mit den meisten von ihnen mehr oder Wichtigeres als mit meinen Landesgenossen des Kölner Stadtrands, in dessen Kneipen und Reitställen ich großgeworden bin. Und so wie (oder mehr noch als) jene sich häufig als Aramäer, Kurden, Assyrer etc. bezeichnen, legen auch meine Referenzdeutschen großen Wert auf die Feststellung, dass sie nicht von irgendwo zwischen Flensburg und Passau, sondern aus einem bestimmten, zwar recht alten, aber wie so viele andere erst im 20. Jahrhundert eingemeindeten rechtsrheinischen Örtchen der westdeutschen Großstadt stammen. Sie sind Dünnwalder, dann Kölner, und erst zuletzt irgendwann Deutsche (bis zum Europäer schafft es keiner), d.h. sie verstehen ihre zufällige Herkunft, die sie sich weder erarbeiten mussten noch verlieren können, als wesentlichen Teil ihrer „Identität“.
Nun weiß ich nicht, was Dünnwalder Werte oder Eigenschaften sind, aber der Kölner [sic!] feiert sich selbst in den (erst durch den immigrierten Kabarettisten Konrad Beikircher formulierten) „11 Geboten“ als toleranten, friedfertigen, genussfreudigen aber verzichtbereiten, gleichmütigen aber festlichen, im besten Sinne „italienischen“ [re-sic!] Zeitgenossen. Mag das auch unpolitisch und selbstgefällig sein, tut es doch keinem weh und ist z.B. sympathischer und lebenswerter als Berliner Kaltschnäuzigkeit oder Frankfurter Geschäftssinn. Es gibt Selbst- und Fremdzuschreibungen, und die haben Ursachen und Wirkung. Es macht einen Unterschied, wo man lebt. Nicht nur, unter welchem Regime – auch darum sind „meine“ Flüchtlinge ja in Deutschland –, sondern auch, in welcher Stadt oder Region eines selben Landes. Die Menschen sind anders, weil die geographischen und im weitesten Sinne historischen Gegebenheiten ihres Wohnorts trotz aller Vermassung immer noch auf und durch die Bewohner fortwirken. Vielleicht haben meine Schüler_innen (die, sei kurz angemerkt, die Silvesternacht 2015/16 nicht am Hauptbahnhof verbracht haben) während ihrer kurzen Zeit in der Domstadt also schon mehr Kölntum aufgesogen als die Säcke vom Stadtrand es je vermochten. Wahrscheinlich sind letztere einfach nur kleingeistig. Aber es geht ja um die, vielmehr den Deutschen!
(Photo: Michael Helming)
„Der Deutsche“?
Aussagen haben die Tendenz, bei wachsendem Abstraktionsgrad an Inhalt und Falsifizierbarkeit zu verlieren. Was soll man sinnvoll über Deutsche sagen können, das wahrhaft Aussagewert hätte und auf den Deutschen zu verallgemeinern wäre? Deutsche Patri(di)oten und Anti-Deutsche (LW51) wissen ganz genau, wie und was er ist, aber sonst wohl keiner. Kein Wunder. Wir reden immerhin von eineinhalb- bis zweitausend Jahren Kultur. „Deutsches“ wurde in einem Siedlungsgebiet erlebt und produziert, das mehr als doppelt so groß ist wie die BRD heute. Canossa, Kreuzzüge, Bauernkrieg, Hexenverbrennung, Kleinstaaterei, Reformation, Aufklärung usw. sind genauso deutsch wie Großmachtstreben, Hitlerei und alle Opposition dagegen. Deutsch sind so unterschiedliche Mythen wie die Nibelungen, Friedrich II., das „Wunder“ von Bern oder das gleichfalls immer in Anführungsstriche zu setzende „Wirtschaftswunder“. Deutsch sind auch Westfälischer Friede, Brandts Kniefall, Auschwitz oder der VW Käfer. „Deutscher Charakter“? Scheißidee!
Das Schwammige am Deutschtum macht sich vielleicht nicht zufällig auch sprachlich bemerkbar. Im Deutschen hat jedes Land und manch eine staatenlose „Kultur“ oder „Ethnie“ eine eigene Endung bzw. Bezeichnung für seine Bewohner, seien es nun Kongolesen, Philippinos, Palästinenser, Israelis, Kurden oder Ivorer (die Einwohner des Landes Elfenbeinküste). Unsere Landesgenossen sind in der Hinsicht die Ausnahme von den ohnehin nicht weit tragenden Regeln: Der Deutsche / ein Deutscher ist das einzige Adjektiv unter den Bewohnernamen, mit all den Endungen der entsprechenden Deklinationstabellen – als sei „Deutschsein“ nur eine Zuschreibung, etwas Behördliches, ein Beiwerk, kein Identifikationsangebot und bestimmt nichts Essentielles.
Hat nicht die SZ in ihrem Feuilleton jahrelang nach ihm geforscht und doch keine auch nur annähernd befriedigende (geschweige denn abschließende) Antwort geben können? Was verbindet einen Rheinländer mit einem Holsteiner? Franken sind beleidigt, wenn man sie Bayern nennt, obwohl sie administrativ welche sind. Und es hat sich ja auch migratorisch einiges getan in den letzten Jahren und Jahrhunderten. So sollen heute in gewissen Bezirken Berlins mehr Schwaben als Berliner leben, und wenn die aufeinanderstoßen, sehen sie neben ihren regionalen die politischen, die Geschmacks- und Klassenunterschiede, aber gewiss nicht das Anale, dass sie angeblich verbindet. Aber bleiben wir nicht starr – anal! – bei dieser Meinung, lassen wir auch andere gelten.
Illu: © Siné / Les Cahiers Dessinés 2014
Der anale Charakter
In dem Buch, das wohl am vehementesten die Idee eines analen Nationalcharakters der Deutschen vertritt, zitiert der Autor Alan Dundes einen gewissen Clyde Kluckhohn, der geschrieben habe, „dass in gewisser Hinsicht jeder Mensch a) wie alle anderen Menschen, b) wie einige andere Menschen und c) wie kein anderer Mensch“ sei (Kluckhohn 1962: 26). Das ist, wie so vieles, so einleuchtend, dass man es nicht erwähnen müsste, wenn es nicht, wie fast dasselbe, immer wieder vergessen würde. Die Frage für den Logiker ist nun, ob b) „einige andere Menschen“ sich mit den Landsleuten deckt, ob man also sagen kann: „Die Deutschen sind wie die anderen Deutschen“. Dundes meint: ja. Denn nachdem er sich ausführlich mit ihrer/unserer Kultur im Großen und Kleinen, im Groben und Feinen beschäftigt hat, schreibt er: „Tatsache ist, daß die analen Themen, die in der deutschen Folklore so auffallend vertreten sind, auch in der sogenannten Hochkultur gefunden werden können. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß Analität ein ausgeprägter integraler Bestandteil des deutschen Nationalcharakters zu sein scheint und sich nicht auf diesen oder jenen Bauern oder auf einzelne außergewöhnliche Theologen, Musiker oder Dichter beschränkt“ (Dundes 1985: 73)
Gemeint sind neben einer Unzahl kleiner Scheißer und Drücker keine Geringeren als die koprophilen Großdeutschen Luther, Mozart, Goethe und, unvermeidlich: Hitler, aber auch kleinere Große wie Böll, Grass oder Liselotte von der Pfalz (1652-1722). Er geht sogar noch weiter: „Ich bezweifle sehr, daß sich Kulturen finden lassen, die sich hinsichtlich der Analität mit der deutschen Kultur messen können.“ (ebd.: 132)
Es tut nicht weh, mit diesem Kluckhohn anzunehmen, dass wir als Deutsche auch „Deutsches“ in uns tragen – zumindest solange wir nicht wissen, was das sei. Akzeptieren wir mit Dundes weiter, dass viele Deutsche anale Charaktere sind – es muss ja nicht die Mehrheit sein, und Sie und ich schon gar nicht. Aber was ist ein analer Charakter?
Der von Freud als solcher definierte Mensch ist in vielerlei Hinsicht in der anal(sadistisch)en Phase steckengeblieben, also in jener Zeit zwischen dem zweiten und vierten Lebensjahr, in der das Kind sich 1. ausgiebig für seine Exkremente interessiert und 2. die Eigenschaften Ordnung, Fleiß, Reinlichkeit, Sparsamkeit, Eigensinn erlernt, also ziemlich genau jene, die Kant in seiner „Anthropologie in pragmatischer Hinsicht“ entwickelt und wie viele andere Denker und Dichter mit den Deutschen in Verbindung gebracht hat.
Anale Charaktere schieben gerne Dinge auf. Sie träumen vom großen Wurf, aber selbst wenn sie das große Ei legen, werden sie nie ganz fertig damit. […]
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