oder: Still-Leben, damit man mehr Leben ahnt
von Wolfgang Schröder, 20.12.2013, 11:38 Uhr (Zwote Dekade, 1/2)
Die Frucht vom Baum der Erkenntnis ist in mythenbildender Tradition meistens der Apfel. Auch Computer könnten am Erkenntnisbaum hängen. Denn Äpfel und Computer sind ähnliche Früchte durch ihre verlockende Ausstrahlung. Die Raffinesse von Kern und Schale, kompakter Fülle und glänzender Oberfläche befriedigt den sinnlichen und den intellektuellen Appetit. Manchmal sind sie wie Kunstwerke, die durch die Identität von Inhalt und Form, Gehalt und Format, Aura und Aroma zu überzeugen versuchen. Geschickt photographierte PCs, Laptops oder andere Sachen, die in virtuellen Kontexten stehen, rufen bei vielen Menschen libidinöse Regungen hervor, die sich zum Beispiel in Kaufgelüsten entladen. Nicht dem Begreifen der Wahrheit verdanken sich solche Anziehungskräfte, sondern der Illusion. Man kann auch einen gemalten Apfel nicht essen. Aber mancher schaut auf ihn mit begierig gemachten Augen. Metaphorische Beeren kann man nicht pflücken. Aber sie regen vielleicht zum Nachdenken über das Ernten an.
Doch einer kann Trauben so malen, dass die Leute den Verstand verlieren und geifern wie Iwan Petrowitsch Pawlows Hund zum Nachweis der klassischen Konditionierung. Plinius zufolge malte Zeuxis „so naturgetreue Trauben, dass Vögel herbeiflogen, um an ihnen zu picken.“ Hierauf spielt Goethe in dem fiktiven Dialog „Über Wahrheit und Wahrscheinlichkeit der Kunstwerke“ an, wenn er dort den „Anwalt des Künstlers“ hervorheben lässt, dass „nur dem ganz ungebildeten Zuschauer […] ein Kunstwerk als ein Naturwerk erscheinen“ könne. Der Gesprächspartner fragt zurück, ob das im Falle der Trauben des Zeuxis nicht eben beweise, „dass diese Früchte vortrefflich gemalt waren“, worauf der Kenner mit einem „Keineswegs“ repliziert. Denn es beweise nur, „dass diese Liebhaber echte Sperlinge waren.“ Die „Sperlinge“ sind die Menschen, die sich wie irregeleitete Vögel benehmen – mit Spatzenhirnen und Sperlingsbewusstsein –, denen der Unterschied zwischen Kunst und Wirklichkeit, die ästhetische Differenz nichts bedeutet. Sie verwechseln Abbild und Abgebildetes wie Don Quijote, der die angelesenen Fiktionen für etwas Reales hielt.
Zu Goethes Anspielung wäre die weitere Überlieferung zu ergänzen, dass Zeuxis gegen seinen Rivalen Parrhasius einmal als Verlierer dagestanden habe, weil er zwar in der Lage gewesen sei, den Vögeln die gemalten Früchte wie wirkliche erscheinen zu lassen, nicht aber Menschen zu Opfern der Illusion habe machen können. Parrhasius hingegen sei es gelungen, sogar Zeuxis durch einen gemalten Vorhang zu täuschen, was bedeutet, dass auch ein in die Technik des Trompe-l’œil Eingeweihter gegen die perfekte Illusion nicht vollends gewappnet ist.
Zahllose Maler haben die illusionären und prächtigen Früchte in die gemalten Obstschalen oder auf die ausschnitthaft angedeuteten Tischplatten der Still-Leben gelegt. Auch andere stillstehende Sachen, wie Joachim von Sandrart sie 1675 in einem kunstgeschichtlichen Quellenwerk nannte, sind immer wieder arrangiert worden. Ein besonderer Reiz entsteht bei möglichst naturgetreuer Abbildung nicht nur durch die Detailgenauigkeit, die meistens mit einem bewussten Verzicht auf den großen Entwurf einhergeht, sondern mehr noch durch den Anschein stillgestellten Lebens, die natura morta, nature morte oder vie coye.
Die malerisch verewigten Trauben spiegeln, da ihr Verzehr nicht nur unwahrscheinlich, sondern schlechterdings ausgeschlossen ist, das pralle Totgestelltsein des Daseins. Die pure Illusion des Gegenständlichen möchte man für Geistesferne halten. Doch warum ist sie so schön? Welche Faszination, welche animierende Wirkung geht von der toten Natur aus? Was ist das bloß im leblosen Abbild, das dennoch auf Leben und Fülle verweist?
(Photo: Michael Helming)
In der verwissenschaftlichten und verwalteten Welt gibt es alle möglichen und oft verheißungsvollen Modelle zur Erklärung des Lebens durch Abstraktion. „Formeln, die die Luft bewohnen“ – so nennt Karl Krolow sie in einem Gedicht. Dessen Titel deutet Verminderung des Realen, des Früchtevorrats bei zunehmender Säuernis an: „Drei Orangen, zwei Zitronen“. Zwinkernd beschwört der Dichter eine „Algebra der reifen Früchte“, die in jubelnder Rationalität das Chaos zu überformen trachtet. „Mathematisches Entzücken“ befriedigt in libidinösen Schichten. Aber die gedankliche Reife verweist auf ein bedenkliches Ende: „Trockne Blumen ruhn […] auf trocknem Wind.“ Krolows Still-Leben schwebt zwischen dem Schein von Leichtigkeit und gewagt verhaltener Apokalypse.
Nicht selten hat hochgestochene Reflexion den Effekt, dass Gegenständliches ungegenständlich wird. In der Kunst, in der Artistik der Wahrnehmung mag dieser Tendenz besonders nachgeholfen werden. Die Stille, die Tilgung, das Unausgesprochene sind Momente solcher Defamiliarisierung des Objektiven. Ähnlich wie Krolow, der die imaginierten Orangen und Zitronen zu geheimnisvollen Chiffren werden lässt, denkt auch der amerikanische Dichter Frank O’Hara über die schwebende Fremdheit stillgestellter Dinge am Rand ihrer Aufhebung nach. In dem Gedicht „Why I am not a painter“, das von verneinter Vergegenständlichung handelt, setzt O’Hara das Schreiben in Beziehung zum Malen. Er vergleicht die auktoriale Arbeit des Suchens nach Worten mit der bildnerischen Arbeit des Visualisierens von Motiven. Dabei entdeckt er in den eigenen Zweifeln an der Wörtlichkeit die gleiche Aufhebung des Dinglichen, wie sie in der Kunst der Moderne auffällt.
Der Dichter trifft auf einen befreundeten Maler, der an einem Bild arbeitet. Ein gegenständliches Motiv ist darin zu sehen: Sardinen. Sie werden später übermalt, dennoch benennt der Maler die Arbeit am Ende mit dem nun nicht mehr abbildgetreuen Namen: Sardinen. Der Dichter arbeitet ungefähr in derselben Zeit an neuen lyrischen Texten. Sie sollen die Farbe Orange thematisieren und davon handeln, „wie schrecklich Orange ist / und das Leben.“ Schließlich ist das Werk fertig; aber, so sagt O’Hara in der Übersetzung durch Rolf Dieter Brinkmann, „ich habe noch nicht einmal / Orange erwähnt. Es sind zwölf Gedichte, ich nenne / sie ORANGEN.“ Der Sachbezug im Titel des Werks irritiert. Das Wort ist weder richtig noch falsch. Sondern die Objektivität des objektiven Korrelats hat sich aufgelöst.
Aber so ist es. Alles scheint irreal. Wir essen kein wirkliches Obst mehr, sondern synthetisches Zeug. Wir tun Dinge, die keine sind. Objekte und Handlungen stellen sich als konzepthafte Prozesse und Kalkulationen dar. Die Verdinglichung wird nicht dinglich, sondern abstrakt wahrgenommen, abgehoben ins Ungegenständliche. Zugleich sind die Früchte der Entfremdung immer noch weitgehend unerforscht. Eine heißt Ratlosigkeit. Sie schmeckt bitter, dient aber als Wirt einer anderen Frucht, die Beliebigkeit heißt. Deren Ableger wiederum gibt es überall in Plantagen und künstlichen Gärten. Das ist eine notorische Art von Verfremdung. Sie glitzert und macht Effekte. Man darf sie mit der Entfremdung, die ihr sozialer Hintergrund ist, nicht verwechseln. Die alltäglich gewordene Ostranenie stellt die Alienation manchmal so in den Schatten, dass selbst die Aliens, die unverstandenen Helden der Andersheit, sich umschauen müssen.
Im Einerlei der Neuheitsappelle und Zeiggeschäftskreationen wird die allgemeine Lust durch pseudo-exotische Früchte bedient. Viele Zeitgenossen lieben das. Während O’Hara die poetischen „Orangen“, die nicht essbar, aber sinnstiftend interpretierbar sind, als surreale Gegenbilder zum aufgeputzten Leben schätzt, finden die postmodernen Konsumenten den schrillen Schein – das unechte Obst, das der Vernunft spottet – interessant. Die Defamiliarisierung hat sich bei ihnen gewohnheitsmäßig verfestigen können. Sie scheint sogar anheimelnd zu wirken. Synthetisches Himbeeraroma, beim Kant, ist a priori lecker. Das künstliche Brot, von dem man vergeblich zu leben versucht, das sind die Fiktionen, die Spiele, die Shows und die Games. Deren trister Nachgeschmack wird übertüncht, während sterile Benutzeroberflächen vor tieferer Betrachtung schützen.
Die Stille der Still-Leben aber ruft eine besondere Wahrnehmungsweise hervor. Man kann das im Rekurs auf Platon und Aristoteles kurz erläutern. Platon zufolge sind künstlerische Abbildungen doppelt entfernt von den Ideen. Demnach liegen in den Schalen der Still-Leben nicht Früchte und Trauben, sondern nur Schatten von Schatten des eigentlich fruchtbaren, fruchtigen Ursprungs. Aristoteles ging über Platon hinaus und vertrat gegen den Älteren die Ansicht, dass die Kunst gar nicht das Wirkliche, sondern das Mögliche und das Wahrscheinliche zeigt. Wenn wir diese Sichtweise auf den Gegenstand unserer Ausführungen beziehen, lässt sich sagen, dass im Still-Leben, weil sich darin nichts bewegt, auch diese Eventualwelt stillzustehen scheint. Im Spielfeld des Möglichkeitsdenkens regt sich offenbar nichts.
Wenn wir ferner die bei Platon gemeinte Distanz zu den reinen Ideen und die durch Aristoteles in den Blick genommene Potentialität mutig zum Doppelkonzept vereinen und wenn wir diese synthetische Perspektive, diese angenommene Doppeldeutigkeit des Ästhetischen nutzen, indem wir erstens die Entfernung vom Idealen und zweitens die eingefrorene Veränderbarkeit, die Null-Option als Merkmale der Still-Leben verstehen, dann will diese Kunstform, die nature morte allerdings wie der Inbegriff sowohl der realen Ideenferne als auch der ausgereizten Optionen erscheinen. Eben dadurch – durch die nicht rückgängig zu machende Entfernung vom geistigen Urgrund und die meistens als Selbstsicherheit getarnte Erstarrung in Alternativlosigkeit – glänzt die Weltlage.
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